Umsatzsteuer: Systematik und Prüfungsschema
Die Umsatzsteuer stellt in nahezu allen Ausbildungs- und Studiengängen im Steuerrecht einen bedeutenden Schwerpunkt dar. Gleichzeitig spielen Umsatzsteuersachverhalte in der Kanzleipraxis eine wichtige Rolle. Schauen wir uns daher einmal die Grundsystematik des Umsatzsteuergesetzes (UStG), die richtige Prüfungsreihenfolge und die Bedeutung der EU-Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) an!
Unser Video:
Grundlagen der Umsatzsteuer
In diesem Video gehen wir auf die wichtigsten Grundlagen der Umsatzsteuer und das dazugehörige Prüfschema ein!
Inhaltsverzeichnis
1. Umsatzsteuer, Mehrwertsteuer – oder beides?
Im alltäglichen Sprachgebrauch – lassen wir Gespräche unter Steuerberatern hier einmal außen vor – kommt es immer wieder zu Verwechslungen zwischen den Begriffen Umsatz- und Mehrwertsteuer. Wichtig zu wissen ist daher bereits im Vorfeld, dass beide exakt dieselbe Steuerart bezeichnen. Es bestehen keinerlei Unterschiede, sodass das Umsatzsteuergesetz auch unter dem Namen „Mehrwertsteuergesetz“ hätte verabschiedet werden können.
„Mehrwertsteuer“ ist dabei der europarechtliche, durch die MwStSystRL geprägte, Begriff. Denn der Besteuerung unterliegt der vom Unternehmer geschaffene Mehrwert, wobei die Steuer schlussendlich nur der (private) Endverbraucher zahlen muss. Im Fachjargon wird die Umsatzsteuer daher auch als „Allphasen-Netto-Steuer“ bezeichnet.
Einführendes Beispiel: Unternehmer A kauft von Unternehmer B Waren für EUR 150,00 ein. B verkauft diese Waren für EUR 250,00 an private Endkunden weiter. A stellt dem B EUR 150,00 zuzüglich 19 % Umsatzsteuer in Rechnung. Den Steuerbetrag erhält B vom Finanzamt zurückerstattet (Vorsteuer), sodass er „unter dem Strich“ nur EUR 150,00 für die Ware bezahlt hat. B stellt dem Endkunden hingegen EUR 250,00 plus Umsatzsteuer in Rechnung.
Im Ergebnis wurde lediglich der durch B geschaffene Mehrwert von EUR 100,00 (Verkaufspreis von EUR 250,00 minus Einkaufspreis von EUR 150,00) besteuert. Die Umsatzsteuer steht dabei – das nur als kleine Randnotiz – Bund und Ländern gemeinsam zu (Artikel 106 Absatz 3 Satz 1 GG).
2. Die Umsatzsteuerbarkeit nach §§ 1 bis 3g UStG
Die Umsatzsteuer folgt, unabhängig davon, ob wir von Theorie oder Praxis sprechen, stets einem einheitlichen Schema. Nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 UStG unterliegen
- Lieferungen und sonstige Leistungen,
- die ein Unternehmer im Rahmen seines Unternehmens
- gegen Entgelt und
- im Inland
ausführt, der Umsatzsteuer. Entsprechendes gilt für die Einfuhr von Gegenständen (Einfuhrumsatzsteuer) und den innergemeinschaftlichen Erwerb (§ 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5 UStG); diesen Themenbereichen widmen wir eigene Fachbeiträge.
Damit die Vorschriften des UStG überhaupt zur Anwendung kommen, benötigen wir also einen Umsatz eines Unternehmers, der im Inland ausgeführt wird. Konkret muss der Leistungsort nach den §§ 3 bis 3g UStG in Deutschland liegen. Schauen wir uns die wesentlichen Tatbestandsmerkmale einmal etwas genauer an.
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2.1. Der Unternehmerbegriff nach § 2 UStG
Nach § 2 Absatz 1 Satz 1 UStG ist umsatzsteuerlicher Unternehmer, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbstständig ausübt. Der Unternehmer muss dabei nachhaltig (auf Dauer angelegt) und mit der Absicht, Einnahmen zu erzielen, tätig werden. Dementsprechend liegt – anders als beispielsweise beim Begriff der Gewerblichkeit nach § 15 Absatz 2 EStG – auch dann ein umsatzsteuerliches Unternehmen vor, wenn bereits von Anfang an keine Gewinne erzielt werden sollen.
Beispiel: Unternehmer U erzielt seit Jahren ausschließlich Verluste. Nach eingehender Beobachtung über mehrere Jahre erkennt das Finanzamt die einkommensteuerlichen Verluste nicht mehr an. Die in den bisherigen Bescheiden vorhandene Vorläufigkeit (§ 165 AO) wird aufgehoben.
Wenngleich einkommensteuerlich nun eine sogenannte „Liebhaberei“ vorliegt, ergibt sich kein Einfluss auf die Umsatzsteuer. Denn U erzielt als selbstständig Tätiger weiterhin Einnahmen und geht seinem Beruf mit einer gewissen Nachhaltigkeit und Regelmäßigkeit nach.
Mit § 2 Absatz 2 UStG übernimmt der Gesetzgeber die sonst häufig notwendige Negativabgrenzung für uns. Keine Unternehmereigenschaft ist demnach vor allem gegeben,
- soweit natürliche Personen einzeln oder zusammengeschlossen so in ein Unternehmen eingegliedert sind, dass eine Weisungsgebundenheit vorliegt (Arbeits- oder Dienstverhältnis) und
- wenn eine umsatzsteuerliche Organschaft im Sinne des § 2 Absatz 2 Nummer 2 UStG besteht. Voraussetzung ist die finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung einer juristischen Person in ein anderes Unternehmen.
Nur wenn die Lieferung oder sonstige Leistung überhaupt von einem Unternehmer ausgeführt wird, kann sie der Umsatzsteuer unterliegen. Insbesondere bei Privatverkäufen (Einfamilienhaus, Fahrzeug) mangelt es meist an der Nachhaltigkeit der Tätigkeit. Daher liegt zwar eine Lieferung vor, es fehlt aber an der Unternehmereigenschaft.
2.2. Lieferung oder sonstige Leistung
Lieferungen sind Leistungen, durch die die Verfügungsmacht über einen Gegenstand auf eine andere Person übergeht (§ 3 Absatz 1 UStG). Regelmäßig geht dabei auch das Eigentum über, da der Käufer im eigenen Namen über den entsprechenden Gegenstand verfügen können muss. Der Umsatzsteuer unterliegende Lieferungen sind darüber hinaus Entnahmen (unentgeltliche Wertabgaben; § 3 Absatz 1b Nummer 1 UStG).
Der Begriff „Lieferung“ ist mitunter deshalb irreführend, weil er eine tatsächliche Warenbewegung impliziert. Hierbei handelt es sich allerdings um keine nach dem UStG zu beachtende Voraussetzung. Klassische Lieferungen sind beispielsweise:
- Verkauf von Waren durch ein Einzelhandelsgeschäft
- Veräußerung von Immobilien
- Verkauf von Software oder den entsprechenden Lizenzen
Sonstige Leistungen sind Leistungen, die keine Lieferungen sind (§ 3 Absatz 9 Satz 1 UStG), üblicherweise also Dienstleistungen. Die sonstige Leistung kann dabei neben der aktiven Handlung auch in einem Dulden oder Unterlassen bestehen (§ 3 Absatz 9 Satz 2 UStG). Analog zu den Lieferungen wird die Verwendung von Gegenständen, die dem Unternehmen zugeordnet sind, zu privaten Zwecken einer sonstigen Leistung gleichgestellt (Entnahme; § 3 Absatz 9a Nummer 1 UStG).
2.3. Leistungsort für Zwecke der Umsatzsteuer
Abschließend, nachdem also eine Lieferung oder sonstige Leistung eines Unternehmers vorliegt, ist der Ort dieser Leistung zu prüfen. Für jeden möglichen Fall sehen die §§ 3 bis 3g UStG eigene Regelungen vor, wobei insbesondere die folgenden Ortsvorschriften praktisch von Bedeutung sind:
- Wird ein nach § 3 Absatz 1 UStG gelieferter Gegenstand vom Unternehmer, vom Abnehmer oder von einem beauftragten Dritten (zum Beispiel die Post) transportiert, liegt der Ort der Lieferung dort, wo die Beförderung beginnt (§ 3 Absatz 6 Satz 1 UStG)
- Liegt eine Lieferung ohne Bewegung oder Beförderung des Gegenstandes vor, liegt entspricht der Ort der Lieferung dem Aufenthaltsort des Gegenstandes im Zeitpunkt der Verschaffung der Verfügungsmacht (§ 3 Absatz 7 UStG). Betroffen sind insbesondere Geschäfte über den Kauf und Verkauf von Grundstücken, Immobilien und Betriebsvorrichtungen
- Eine sonstige Leistung wird immer dort ausgeführt, wo der leistende Unternehmer seinen Sitz hat (§ 3a Absatz 1 Satz 1 UStG in Verbindung mit § 11 AO). Bei Ausführung der Leistung von einer Betriebsstätte ist diese Leistungsort (§ 3a Absatz 1 Satz 2 UStG)
- Bei B2B-Umsätzen (Unternehmer-zu-Unternehmer) liegt der Ort der sonstigen Leistung dort, wo der Empfänger sein Unternehmen betreibt (§ 3a Absatz 2 Satz 1 UStG)
Zusätzlich gelten zahlreiche Spezialregelungen, zum Beispiel für Bewirtungsumsätze, Grundstücksvermietungen und Beförderungsleistungen. Auch ihnen widmen wir einen eigenen Beitrag.
Damit ein Umsatz nun der Umsatzsteuer unterliegt, muss sich nach den jeweils geltenden Ortsbestimmungen der Ort im Inland befinden. Erbringt beispielsweise ein deutscher Unternehmer eine Architektenleistung (sonstige Leistung) an einen anderen Unternehmer aus Österreich, liegt der Ort nach § 3a Absatz 2 UStG dort. Im Inland ist die Leistung nicht steuerbar (§ 1 Absatz 1 Nummer 1 UStG).
3. Umsatzsteuer-Sonderfälle des § 2 Absatz 2 UStG im Überblick
Mit § 2 Absatz 2 UStG normiert der Gesetzgeber einheitliche Ausnahmen von der Unternehmereigenschaft. Er schafft damit eine Negativabgrenzung, die wir üblicherweise anhand der (positiven) Tatbestandsvoraussetzungen selbst vornehmen müssen. Allerdings enthält § 2 Absatz 2 UStG keine abschließende Aufzählung, sondern vermittelt lediglich einen Eindruck, welche Sachverhalte der Gesetzgeber von der Umsatzsteuer ausnehmen möchte.
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3.1. Arbeitnehmer
Tätigkeiten, die eine natürliche Person weisungsgebunden ausübt, bedingen regelmäßig keine Unternehmereigenschaft (§ 2 Absatz 2 Nummer 1 UStG). Unter die Norm fallen vor allem Arbeitnehmer und Beamte. Maßgeblich ist bei diesen Berufsgruppen die fehlende Voraussetzung „selbstständig“, wobei hiermit insbesondere das Tätigwerden auf eigene Rechnung gemeint ist (Abschnitt 2.2 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 Satz 1 UStAE).
Für die Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer gelten bei der Prüfung dieselben Abgrenzungsmerkmale. Liegt nach ertragsteuerlichen Grundsätzen zum Beispiel eine Scheinselbstständigkeit vor, wird das Finanzamt auch bei der Umsatzsteuer von einer fehlenden Unternehmereigenschaft ausgehen.
3.2. Organschaft
Während § 2 Absatz 2 Nummer 1 UStG die Abhängigkeit natürlicher Personen betrifft, regelt § 2 Absatz 2 Nummer 2 UStG die Abhängigkeit juristischer Personen von einem anderen Unternehmen. Sind die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, ist die in das andere Unternehmen eingegliederte Körperschaft kein eigenständiges Unternehmen mehr. Für Zwecke der Umsatzsteuer liegt dann eine sogenannte Organschaft vor.
Voraussetzungen für das Vorliegen einer Organschaft sind:
- Finanzielle Eingliederung: Der Organträger hält die Mehrheit der Anteile an der Organgesellschaft. Beispiel: Einzelunternehmer U ist mit 60 % an der U-GmbH beteiligt (Abschnitt 2.8 Absatz 5 Satz 1 UStAE)
- Wirtschaftliche Eingliederung: Die Beteiligung muss beim Anteilseigner dem unternehmerischen Bereich zugeordnet werden können; dies ist gegeben, wenn zumindest gewillkürtes Betriebsvermögen im Sinne der R 4.2 Absatz 1 Satz 4 EStR vorliegt (Abschnitt 2.8 Absatz 6 Satz 2 und 3 UStAE)
- Organisatorische Eingliederung: Sie ist gleichzusetzen mit der personellen Verflechtung bei einer ertragsteuerlichen Betriebsaufspaltung. Die Körperschaft ist immer dann in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert, wenn letzterer seinen Willen bei der juristischen Person auch tatsächlich durchsetzen kann (Abschnitt 2.8 Absatz 7 Satz 2 UStAE)
Die Organschaft ist ein eigenständiges Unternehmen, sodass innerhalb selbiger keine Leistungsaustausche mehr möglich sind. Umsätze zwischen den Organen sind als nicht steuerbar zu behandeln (§ 1 Absatz 1 Nummer 1 UStG). Die umsatzsteuerliche Wirkung der Organschaft ist dabei auf Deutschland beschränkt (§ 2 Absatz 2 Nummer 2 Satz 2 und 3 UStG).
3.2. Beispiele zur Organschaft
Abschließend einige Beispiele zur umsatzsteuerlichen Organschaft. Dabei gelten für Gewerbe- und Körperschaftsteuer identische Definitionen, aber auch die des § 2 Absatz 2 Nummer 2 UStG ist nicht allzu weit davon entfernt.
- A ist Einzelunternehmer. Er hält Anteile an der A-GmbH (70 %), die sein wichtigster Geschäftspartner ist. Außerdem ist A als Geschäftsführer für die Gesellschaft tätig. Er bezieht hierfür ein marktübliches Gehalt von EUR 90.000 pro Jahr. Im Jahr 2022 verkauft die GmbH Waren für EUR 30.000 zuzüglich Umsatzsteuer (EUR 5.700) an A. Soweit A als Arbeitnehmer tätig wird, ist er kein Unternehmer (§ 2 Absatz 2 Nummer 1 UStG). Das Gehalt wurde zutreffend als umsatzsteuerlich irrelevant behandelt. Da aber zwischen A und der A-GmbH eine Organschaft vorliegt, wäre der Warenverkauf an A nicht steuerbar gewesen. Die GmbH schuldet die Umsatzsteuer nach § 14c Absatz 2 Satz 1 UStG
- Wie das vorherige Beispiel, A ist aber nur mit 60 % an der GmbH beteiligt. Geschäftsführerin ist seine alte Schulfreundin S, die 40 % der Anteile hält. A kann damit zwar Gesellschafterrechte ausüben, hat auf das alltägliche Geschäft der GmbH und die damit verbundenen Entscheidungen keinen Einfluss. Nun liegt keine Organschaft vor, da die GmbH bei A zwar finanziell und wirtschaftlich, nicht aber organisatorisch eingegliedert ist
- Die DE1-GmbH (Sitz in Deutschland) ist mit 60 % an der AT-GmbH (Sitz in Österreich) und zu 75 % an der DE2-GmbH (Sitz in Deutschland) beteiligt. Zwischen allen Gesellschaften besteht nach den Voraussetzungen des § 2 Absatz 2 Nummer 2 UStG unstrittig eine Organschaft. Die AT-GmbH verkauft nun Waren nach Deutschland und stellt der DE1-GmbH hierfür eine Rechnung über EUR 30.000. Die deutsche GmbH verwirklicht einen innergemeinschaftlichen Erwerb im Sinne des § 1a UStG, der steuerbar und steuerpflichtig ist. Hintergrund: Die Wirkungen der Organschaft (Behandlung als ein Unternehmen) sind auf das Inland beschränkt
Entsteht eine Organschaft, ohne dass eine der beteiligten Personen es bemerkt, kommt es in der Regel zur Anwendung des § 14c UStG. Außerdem wird der abzugsberechtigten Person der Vorsteuerabzug mangels gesetzlicher Entstehung versagt (§ 15 Absatz 1 Nummer 1 UStG). Darüber hinaus kann eine ertragsteuerliche Betriebsaufspaltung vorliegen (R 15.7 EStR).
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