Schätzung der Besteuerungsgrundlagen

Wann darf das Finanzamt schätzen?

Schätzung nach § 162 AO: Was darf das Finanzamt?

Unter bestimmten Voraussetzungen, geregelt in der AO, darf das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen schätzen. Dabei hat es allerdings alle geltenden Grundsätze, insbesondere zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung, zu beachten. Außerdem sind „Strafschätzungen“ zulasten des Steuerpflichtigen verboten. Wir schauen uns die grundlegenden Voraussetzungen für eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO einmal genauer an!

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Inhaltsverzeichnis

1. Allgemeine Verfahrensgrundsätze bei der Schätzung nach § 162 AO

Die Schätzung ist im dritten Abschnitt der Abgabenordnung (AO), der die grundlegenden Festsetzungs- und Feststellungsvorschriften enthält, geregelt. Konkret normiert dabei § 162 AO die Schätzungsbefugnisse der Finanzbehörden, wobei die Norm immer in Verbindung mit den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen zu sehen ist. Das Finanzamt muss also auch bei der Schätzung sicherstellen, dass

  • Ermessensspielräume nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ausgenutzt werden (§ 5 AO),
  • die Gleichmäßigkeit der Besteuerung (Gleichbehandlung aller Steuerpflichtiger) nach § 85 AO sichergestellt ist,
  • Tatsachen sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen Berücksichtigung finden, soweit sie bekannt sind (§ 88 Absatz 1 und 2 Satz 1 AO), und
  • dem oder den Beteiligten im Sinne des § 78 AO Gelegenheit zur Äußerung gegeben wird, sofern dies nicht offensichtlich ergebnislos bleiben würde (§ 91 Absatz 1 und 2 AO).

Aus Gründen der Gleichbehandlung fordert das Finanzamt den Steuerpflichtigen daher bereits vor der Schätzung und in der Regel mehrfach zur Abgabe der Steuererklärung auf. Denn es wäre nach den Grundsätzen des § 85 AO beispielsweise unzulässig, steuerpflichtige Person „A“ an die Abgabe zu erinnern, bei Person „B“ aber von einer Erinnerung abzusehen, weil bereits mehrfach keine Steuererklärung eingereicht wurde.

Ausnahmen bestehen allerdings für zwingende öffentliche Belange und drohende Fristabläufe, insbesondere mit Blick auf die Festsetzungsfrist. Hier kann das Finanzamt auch unmittelbar eine Schätzung veranlassen, wenn die maßgebende Festsetzungsfrist durch das Abwarten der Antwort des Steuerpflichtigen verstreichen würde (§ 91 Absatz 2 Nummer 2 AO).

2. Zulässigkeit und Umfang der Schätzung im Besteuerungsverfahren

Nach § 162 Absatz 1 AO ist die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig, soweit das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen weder ermitteln noch berechnen kann. Sie ist eine besondere Form der Sachverhaltsaufklärung im Wege der freien Beweiswürdigung und im Wesentlichen basierend auf Erfahrungswerten der Finanzverwaltung. Da einer Schätzung daher mitunter keine tatsächlichen Anhaltspunkte oder gar Beweise zugrunde liegen, bedarf es eines besonderen Schätzungsanlasses.

Werfen wir daher in den nächsten Abschnitten einen etwas genaueren Blick auf die folgenden Aspekte:

  • Anwendungsbereich von § 162 AO und Gegenstand der Schätzung
  • Voraussetzungen für die Durchführung der Schätzung (Schätzungsanlässe)
  • Schätzungsmethoden
  • Begründung des unter Anwendung des § 162 AO erlassenen Steuerbescheides

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2.1. Anwendungsbereich und Gegenstand des § 162 AO in der Praxis

Der Anwendungsbereich des § 162 AO ist bei sämtlichen „Besteuerungsgrundlagen“ eröffnet. Dies sind alle steuermindernden und steuererhöhenden Tatsachen, die für die schlussendlich festzusetzende Steuer von Bedeutung sind. Von § 162 Absatz 1 Satz 1 AO können daher auch Beteiligungsquoten, anzusetzende Verluste, Steuervergünstigungen und subventionserhebliche Tatsachen respektive das Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen sein.

Unter die Norm fallen alle Steuerarten, auf die die Abgabenordnung Anwendung findet (§ 1 Absatz 1 Nummer 1 AO). Neben „Steuern“ im eigentlichen Sinne sind das insbesondere steuerliche Nebenleistungen, aber auch die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach den §§ 179 und 180 AO. Denn für die gesonderte Feststellung gelten die Vorschriften über das Besteuerungsverfahren, und damit auch § 162 AO, sinngemäß (§ 181 Absatz 1 Satz 1 AO).

Schätzungsverbote ergeben sich allerdings indirekt aus den materiellen Steuergesetzen, die die Verfahrensnormen der AO insoweit verdrängen. Von der Schätzung ausgenommen sind daher insbesondere Besteuerungsgrundlagen, an deren Berücksichtigung der Gesetzgeber zwingende Voraussetzungen stellt (unter anderem BFH vom 12.06.1986, V R 75/78):

  • Vorsteuerabzug: Ein Abzug der Vorsteuer ist nur zulässig, wenn der den Abzug beanspruchende Unternehmer eine entsprechende Rechnung des Dienstleisters oder Lieferers vorlegen kann (§ 15 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 UStG). Hieraus ergibt sich, dass das Finanzamt regelmäßig – mangels vorliegender Rechnungsdokumente – keine Vorsteuerbeträge zugunsten des Steuerpflichtigen schätzt
  • Private Kfz-Nutzung: Sie wird durch einheitliche Berechnungsmethoden (1 % des Listenpreises oder Fahrtenbuch) ermittelt; § 6 Absatz 1 Nummer 4 Sätze 2 und 3 EStG. Eine abweichende Schätzung kommt daher in aller Regel nicht in Betracht
  • Lohnsteuerabzug: Vom Arbeitgeber einbehaltene Lohnsteuer ist auf die zu zahlende Einkommensteuer anzurechnen (§ 36 Absatz 4 EStG). Liegen dem Finanzamt keine entsprechenden Daten (eDaten) in Form der Lohnsteuerbescheinigung vor, wird es auch keine Schätzung der Abzugsbeträge vornehmen

Betroffen sind also insbesondere steuerliche Tatsachen, deren Berücksichtigung ihrerseits vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen abhängt.

2.2. Voraussetzungen für die Durchführung einer Schätzung: der Schätzungsanlass

Um überhaupt mit der Schätzung beginnen zu dürfen, benötigt das Finanzamt einen entsprechenden Anlass. Gleichzeitig muss die Einhaltung vorliegender Ermittlungspflichten erfüllt sein, sodass die Erzwingung der Abgabe einer Steuererklärung (notfalls mit Zwangsgeld nach § 328 AO) grundsätzlich Vorrang vor Schätzungsmaßnahmen hat (BFH vom 23.08.1994, VII R 143/92). Hintergrund ist, dass der Gesetzgeber eine zu niedrige Schätzung und damit Bevorteilung des Steuerpflichtigen nach Möglichkeit unterbinden möchte.

Wesentliche Schätzungsanlässe ergeben sich insbesondere aus § 162 Absatz 2 AO:

  • Der Steuerpflichtige hat es trotz gesetzlicher Verpflichtung unterlassen, eine Steuererklärung abzugeben
  • Der Steuerpflichtige hat zwar seine Erklärung abgegeben, verweigert aber die Beantwortung von Rückfragen durch das Finanzamt und verletzt dadurch seine Mitwirkungspflichten nach § 90 Absatz 2 AO
  • Der Unternehmer legt Bücher und Aufzeichnungen nicht vor, diese sind unvollständig oder entsprechen offensichtlich nicht den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (GoBD)

Erfolgt die Schätzung aufgrund vorhandener und bereits festgestellter Mängel, so müssen diese Anlass dazu geben, auch die übrigen Ergebnisse anzuzweifeln (BFH vom 14.12.2011, XI R 5/10).

Mit § 162 Absatz 2 Satz 3 AO enthält die Norm außerdem konkrete Schätzungsbefugnisse des Finanzamtes bei Sachverhalten mit Auslandsbezug. Steuerpflichtige sind nach § 90 Absatz 2 Satz 3 AO dazu verpflichtet,

  • Geschäftsbeziehungen,
  • Verträge,
  • Vereinbarungen mit Bezug zu immateriellen Werten und
  • eingesetzte wesentliche Vermögenswerte

umfassende Aufzeichnungen zu führen und auf Anforderung vorzulegen. Betroffen sind geschäftliche Beziehungen jeder Art zu ausländischen Kreditinstituten. Die Verpflichtung, erhaltene und steuerpflichtige Einkünfte anzugeben, ergibt sich hingegen bereits aus den Einzelsteuergesetzen; Strafbarkeit besteht insbesondere durch § 370 AO (Steuerhinterziehung). Diesbezügliche Pflichtverstöße ermächtigen die Finanzbehörde, widerlegbar davon auszugehen, dass die Einkünfte nicht oder zu niedrig erklärt wurden.

Mit § 162 Absatz 4 und 4a AO hat das Finanzamt die Möglichkeit, im Rahmen der Schätzung Steuerzuschläge festzusetzen, wenn Mitwirkungspflichten nach § 90 AO verletzt wurden. Der Zuschlag kann bis zu EUR 1.000.000 betragen.

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2.3. Schätzung nach § 162 AO: Welche Methoden nutzt das Finanzamt?

Da auch bei der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen Gleichmäßigkeit und Verhältnismäßigkeitsgrundsätze zu beachten sind, bedienen sich die Finanzbehörden verschiedener Schätzungsmethoden. Sie sind dabei grundsätzlich frei, können also nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, wie sie eine sachgerechte Schätzung sicherstellen. Maßgebend sind im Regelfall die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Sachverhaltes.

Zur Anwendung kommen beispielsweise die folgenden Methoden für die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen:

  • Äußerer Betriebsvergleich: Er findet in der Regel mit sogenannten Richtsätzen, zu finden in der Richtsatzsammlung, statt. Das Finanzamt prüft anhand branchenüblicher Durchschnittswerte, ob beispielsweise der erklärte Eigenverbrauch realistisch, zu hoch oder zu niedrig angesetzt wurde. Entsprechendes gilt für Rohgewinne und die entsprechenden Aufschlagssätze
  • Innerer Betriebsvergleich: Wie die Bezeichnung bereits andeutet, findet hier eine Plausibilitätsprüfung der erklärten Werte ohne Einbezug externer Daten statt. Ein Betriebsprüfer stellt beispielsweise Einnahmen und Ausgaben gegenüber; er vergleicht außerdem den Warenein- mit dem Warenausgang
  • Kassenfehlbetragsrechnung: Nach § 146 Absatz 1 Satz 2 AO sind alle Kassenbewegungen täglich zu erfassen und festzuhalten. Fehlbeträge können sich ergeben, wenn zwar Warenausgänge verbucht wurden (Soll-Kassenbestand), sich der tatsächliche (Ist-) Kassenbestand aber niedriger darstellt. Der Betriebsprüfer kann hier davon ausgehen, dass die Verbuchung von Betriebseinnahmen unterblieben ist und eine entsprechende (Hinzu-) Schätzung vornehmen
  • Geldverkehrsrechnung: Im Fokus steht der Grundsatz, dass jedem Geldeingang ein Geldausgang gegenüberstehen muss. Der Betriebsprüfer vergleicht die Summe der Einnahmen mit der Summe der „Ausgaben“, insbesondere Betriebsausgaben und Entnahmen. Einlagen und „fiktive“ Eingänge wie unentgeltliche Wertabgaben durch eine private Kfz-Nutzung bleiben dabei außer Ansatz; maßgeblich sind nur tatsächliche Kassen- und Kontobewegungen

In der Prüfungspraxis finden viele weitere Schätzungsmethoden, die regelmäßig auf mathematischen Verfahren beruhen, Anwendung. Mit dem Chi-Quadrat-Test kann der Betriebsprüfer beispielsweise feststellen, ob der Steuerpflichtige bestimmte „Lieblingszahlen“ – die entsprechend überproportional häufig auftauchen – hat. Ein positives Ergebnis des Tests kann dann Anlass für eine manipulierte Buchführung sein (FG Münster, 14.08.2003, 8 V 2651/03 E).

2.4. Erlass und Begründung des Schätzungsbescheides

Die Schätzung ist Teil des Festsetzungsverfahrens, sodass der schlussendliche Steuerbescheid einen regulärer Steuerverwaltungsakt darstellt. Für das Finanzamt gilt allerdings eine besondere Begründungsflicht nach § 121 Absatz 1 AO, weil der Steuerpflichtige ohne Erläuterung nur eingeschränkt in der Lage wäre, die angesetzten Werte nachzuvollziehen. Bei unterbliebener Abgabe der Steuererklärung reicht es allerdings aus, lediglich auf diesen Schätzungsgrund zu verweisen (BFH vom 11.02.1999, V R 40/98).

Hat das Finanzamt allerdings intensive Ermittlungen vorgenommen, etwa durch die Anwendung von Schätzungsmethoden, muss der Bescheid eine ausführlichere Begründung enthalten. Notwendig sind insbesondere Erläuterungen zur Vorgehensweise und genutzten Ermittlungsansätzen. Im Ergebnis muss der Steuerpflichtige die Möglichkeit haben, den Ermittlungsweg des Finanzamtes nachzuvollziehen (BFH vom 14.12.2011, XI R 5/10).

3. Schätzung der Besteuerungsgrundlagen bei fehlendem Grundlagenbescheid

Grundlagenbescheide sind für den Folgebescheid bindend (§ 182 Absatz 1 Satz 1 AO). Das Finanzamt könnte – ohne Befugnis zur Schätzung – daher keinen Folgebescheid erlassen, wenn und solange der Grundlagenbescheid fehlt. Steuerpflichtige hätten die Möglichkeit, den Erlass des Folgebescheides „ewig“ hinauszuzögern, indem sie die Erstellung eines Grundlagenbescheides – etwa durch Nichtabgabe der Feststellungserklärung – verhindern.

Nach § 162 Absatz 1 AO besteht daher

  • durch § 181 Absatz 1 Satz 1 AO auch für das Feststellungsfinanzamt die Möglichkeit, die Besteuerungsgrundlagen im Feststellungsbescheid zu schätzen, und
  • für das Wohnsitzfinanzamt die Möglichkeit, die anzusetzenden Besteuerungsgrundlagen aus dem (noch ausstehenden) Grundlagenbescheid zu schätzen.

Geht der Feststellungsbescheid später beim Finanzamt ein, werden die geschätzten durch die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen ersetzt. Die entsprechende Änderungsmöglichkeit besteht regelmäßig nach § 175 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 AO.

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4. Abgabe der Steuererklärung nach Erlass des Schätzungsbescheides

Grundsätzlich haben die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen Vorrang vor den durch das Finanzamt geschätzten Werten. Gibt der Steuerpflichtige seine Steuererklärung daher erst ab, nachdem die Schätzung durchgeführt wurde, liegt regelmäßig eine „neue Tatsache“ im Sinne des § 173 AO vor. Der Bescheid ist entsprechend zu ändern. Geht die Steuererklärung innerhalb der Einspruchsfrist (§ 355 AO) ein, erfolgt die Änderung regelmäßig nach § 172 Absatz 1 Nummer 2 Buchstabe a AO.

Allerdings liegt bei der Schätzung in aller Regel ein „nicht abschließend geprüfter Steuerfall“ vor. Das Finanzamt wird den Bescheid daher nach § 164 Absatz 1 AO unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassen. Änderungen, die sich durch die Abgabe der Steuererklärung ergeben, erfolgen dann nach dieser Norm; die Erklärung gilt als Antrag (§ 164 Absatz 2 Satz 1 und 2 AO).

Die Nichtabgabe einer Steuererklärung kann eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung (§§ 370 und 378 AO) darstellen. Ein entsprechender Fall ist gegeben, wenn die Steuer durch Schätzungsbescheid niedriger als tatsächlich und objektiv anfallend festgesetzt wurde (§ 370 Absatz 4 Satz 1 AO). Ergeht der Schätzungsbescheid unter Vorbehalt der Nachprüfung, gilt die Festsetzung für die Anwendung der Strafnormen als endgültig.

Bei „geschätzten“ Steuerpflichtige, bei denen die Steuer in erheblichem Maße zu niedrig festgesetzt wurde, kommt daher die Abgabe einer strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO in Frage. Dies ist allerdings nur möglich, solange das Finanzamt noch keine Kenntnis von der Steuerhinterziehung erlangt hat. Steuerpflichtige haben aber die Möglichkeit, die Selbstanzeige mit der Abgabe der Steuererklärung einzureichen (Klein/Jäger, 16. Auflage 2022, AO § 371, Randziffer 52).   

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