Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung im Insolvenzrecht
Das Insolvenzgericht darf ein Insolvenzverfahren nur bei Vorliegen eines gesetzlichen Eröffnungsgrundes einleiten. Nach den §§ 17 bis 19 InsO erfolgt die Einleitung entweder bei bereits eingetretener oder drohender Zahlungsunfähigkeit auf der einen oder Überschuldung des Unternehmens auf der anderen Seite. Wir schauen uns etwas genauer an, wann das jeweilige Merkmal erfüllt ist und welche Folgen der nachträgliche Wegfall des Eröffnungsgrundes für den Unternehmer hat!
Unser Video:
Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung
In diesem Video gehen wir auf die Kernvoraussetzungen des Insolvenzverfahrens ein.
Inhaltsverzeichnis
1. Grundsatz: Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung als Eröffnungsgründe
Nach § 16 InsO setzt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens voraus, dass ein sogenannter Eröffnungsgrund gegeben ist. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass das zuständige Insolvenzgericht den Antrag unmittelbar zurückweisen kann, wenn der Antragsteller das Vorliegen des entsprechenden Grundes nicht nachweist. Mit der Prüfung kann das Gericht auch Gutachter und Sachverständige auf Kosten des Schuldners beauftragen.
Eröffnungsgründe sind:
- Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO): Sie liegt vor, wenn der Schuldner mangels vorhandener Mittel außerstande ist, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Hiervon ist widerlegbar auszugehen, wenn die Zahlungen eingestellt wurden
- Drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO): Beantragt der Schuldner selbst die Eröffnung des Verfahrens, so kann er dies bereits bei drohender Zahlungsunfähigkeit tun. Diese liegt vor, wenn er voraussichtlich außerstande sein wird, seinen (in Zukunft) fälligen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Als Betrachtungszeitraum gilt ein solcher von regelmäßig 24 Monaten
- Überschuldung (§ 19 InsO): Von Überschuldung ist auszugehen, wenn die Verbindlichkeiten einer juristischen Person ihr Vermögen übersteigen. Eine Ausnahme gilt, wenn die Fortführung des Unternehmens nach den individuellen Umständen in den nächsten 12 Monaten wahrscheinlich ist
Wenngleich die genannten Definitionen auf den ersten Blick simpel einfach erscheinen, so sind sie in der Praxis weitaus diffiziler. Hintergrund ist vor allem die maßgebende und ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH).
1.1. Drohende und bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit
Schauen wir uns für eine konkrete Definition der Zahlungsunfähigkeit zunächst die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 17 Absatz 2 Satz 1 InsO an. Demnach ist ein Schuldner zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, bestehende oder noch aufkommende Zahlungsverpflichtungen im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen. Alternative eins bezeichnet die bereits eingetretene, Alternative zwei die drohende Zahlungsunfähigkeit. Beiden gemein ist das Abstellen auf die Fälligkeit einer Gläubigerforderung.
Der Begriff der „Fälligkeit“ ist nach den Grundsätzen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auszulegen. Dabei gilt:
- Eine Leistung ist, wenn kein anderer Zeitpunkt bestimmt ist, sofort fällig (§ 271 Absatz 1 BGB). Wurde ein Fälligkeitstag festgelegt, kann der Schuldner die Forderung zwar bereits vorher erfüllen, der Gläubiger die Erfüllung aber erst bei vereinbarter Fälligkeit verlangen (§ 271 Absatz 2 BGB)
- Bestehen zwischen Gläubiger und Schuldner wechselseitige Leistungspflichten, so kann der Schuldner die geschuldete Leistung verweigern, bis seine Forderung erfüllt wurde (§ 273 Absatz 1 BGB)
- Leistungsansprüche sind ausgeschlossen, wenn die Erfüllung der Verpflichtung in tatsächlicher Hinsicht unmöglich ist (§ 275 Absatz 1 BGB)
Gestundete Leistungen können daher auch im Sinne der InsO keiner Fälligkeit unterliegen. Das Vorliegen einer entsprechenden Vereinbarung sollte aber stets ausführlich und beweissicher dokumentiert werden.
Beispiel: Der Schuldner verfügt aktuell über keinerlei Barmittel. Nun geht eine Lieferantenrechnung über EUR 50.000, die in 14 Tagen fällig ist, ein. Gleichzeitig hat der Schuldner eine Rechnung über EUR 100.000 an einen Kunden gestellt. Diese wird bei Fälligkeit nach 7 Tagen beglichen.
Lösung: Es liegt keine Zahlungsunfähigkeit vor. Im Zeitpunkt der Fälligkeit der Forderung, also in 14 Tagen, verfügt der Schuldner über ausreichende Barmittel.
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1.2. Die Liquiditätsbilanz nach BGH-Rechtsprechung
Unter anderem mit Urteil vom 19.12.2017 (II ZR 88/16) hat der Bundesgerichtshof das Konstrukt der „Liquiditätsbilanz“ zur Feststellung einer Zahlungsunfähigkeit etabliert. Demnach sind die vorhandenen Zahlungsmittel den bestehenden Zahlungsverpflichtungen – jeweils im Zeitpunkt der Fälligkeit der Verbindlichkeit – gegenüberzustellen.
Zahlungsmittel sind dabei insbesondere:
- Verfügbare, also noch nicht ausgereizte, Kreditlinien
- Guthaben bei Kreditinstituten
- Barmittel
Als Zahlungsverpflichtungen kommen beispielhaft in Betracht:
- Fällige offene Rechnungen
- Fällige Steuern und sonstige Abgaben
- Lohn- und Gehaltszahlungen
- Vollstreckbare Urkunden
Zu berücksichtigen sind allerdings auch erst in Zukunft fällige Verbindlichkeiten (sogenannte Passiva II). Ein Sonderfall ist bei nur „geringfügigen Liquiditätslücken“ (BGH vom 24.05.2005, IX ZR 123/04) gegeben (sogenannte Zahlungsstockung). Solche sind nach dem genannten Urteil gegeben, wenn der Schuldner
- trotz eines wenigstens drei Wochen andauernden Mangels an Zahlungsmitteln
- noch („immerhin“) imstande ist, seine
- Zahlungsverpflichtungen zu wenigstens 90 % zu erfüllen.
Beispiel: Der Schuldner hat insgesamt Schulden in Höhe von EUR 100.000, die er zu 95 % (EUR 95.000) bei Fälligkeit entrichten kann. Gleichzeitig ist absehbar, dass die verbleibenden EUR 5.000 innerhalb weniger Tage (Anmerkung: maximal drei Wochen) ebenfalls zurückgezahlt werden. In der Folge ist keine Zahlungsunfähigkeit anzunehmen.
Unzulässig ist allerdings ein dauerhaftes Ausreizen der 90-%-Grenze. Ist also absehbar, dass der Unternehmer über ein Zeitraum von mehr als drei Wochen – und damit nicht mehr „vorübergehend“ – nur 90 % oder weniger seiner Zahlungsverpflichtungen erfüllen kann, geht das Insolvenzgericht von einer Zahlungsunfähigkeit aus. Etwas vereinfacht ausgedrückt, möchte der BGH schlichtweg vermeiden, dass der Unternehmer eine „Lücke“ von 10 % der Verbindlichkeiten dauerhaft „vor sich herschieben“ kann.
Liegt nach den genannten Kriterien eine Zahlungsunfähigkeit vor, ohne dass der Unternehmer unverzüglich das Insolvenzverfahren beantragt, erfüllt er gegebenenfalls den Straftatbestand der Insolvenzverschleppung nach § 15a Absatz 4 InsO. Entsprechendes gilt, wenn von einer Zahlungsunfähigkeit etwa durch vordatierte Schecks, Kreditkündigungen durch Banken oder eine Häufung von Pfändungen auszugehen ist (BGH vom 18.07.2013, IX ZR 143/12).
1.3. Überschuldung und negative Fortbestehensprognose
Bei juristischen Personen (etwa der GmbH) kommt auch die Überschuldung als Eröffnungsgrund infrage (§ 19 Absatz 1 InsO). Eine solche ist nach Absatz 2 gegeben, wenn
- zum einen die bestehenden Verbindlichkeiten das vorhandene Vermögen übersteigen und
- zum anderen eine negative Fortbestehensprognose für die nächsten 12 Monate gestellt werden kann.
Zum Begriff der die Vermögenswerte übersteigenden Verbindlichkeiten ist auf das Handelsrecht, insbesondere die Bilanz nach den §§ 266 fort folgende HGB, abzustellen. Anzeichen für eine bilanzielle Überschuldung ist der Ausweis nach § 268 Absatz 3 HGB, also des nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrages auf der Aktivseite der Bilanz. Gesellschafterdarlehen sind außen vor zu lassen, wenn zwischen Gläubiger (Gesellschafter) und Schuldner (Gesellschaft) ein Nachrang im Insolvenzverfahren vereinbart wurde (§§ 19 Absatz 2 Satz 2, 39 Absatz 2 InsO).
Hinweis: „Vermögen“ umfasst auch stille Reserven. Sind in Vermögenswerten also stille Reserven enthalten, werden diese im Zweifel durch ein Gutachten und die hierauf basierende Insolvenzbilanz aufgedeckt.
Die Fortbestehensprognose ist nach § 19 Absatz 2 Satz 1 Halbsatz 2 InsO
- positiv, wenn überwiegend davon auszugehen ist, dass das Unternehmen die nächsten 12 Monate „überlebt“, also fortbesteht, und
- negativ, wenn die Anzeichen überwiegend für einen Untergang des Unternehmens sprechen.
Gerade die Erstellung einer Fortbestehensprognose gestaltet sich in der Praxis mitunter äußerst komplex. Wesentlicher Ansatz ist daher die Aufdeckung stiller Reserven für insolvenzrechtliche Zwecke, um den Verdacht einer Überschuldung zu entkräften. Teil dieser Maßnahme kann und sollte, sofern zutreffend, auch die Vereinbarung des von § 19 Absatz 2 Satz 2 InsO geforderten Nachranges sein.
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2. Nachträglicher Wegfall von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung
Bei den nach §§ 14 bis 15a InsO bestehenden Antragsrechten und -pflichten handelt es sich um sogenannte Stichtagsbetrachtungen. Maßgeblich für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ist also, dass der Unternehmer zum entsprechenden Stichtag entweder zahlungsunfähig oder überschuldet ist. Da hiermit alle Voraussetzungen für das Insolvenzverfahren vorliegen, ist dieses einzuleiten und durchzuführen. Erfüllt der Unternehmer seine Verpflichtung zur Antragstellung nach § 15a Absatz 1 oder 2 InsO nicht – etwa, weil er von erheblichen Geldeingängen in den nächsten Monaten ausgeht – liegt ungeachtet zukünftiger Verhältnisse eine Insolvenzverschleppung vor. Sie wird mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe bestraft (§ 15a Absatz 4 InsO).
Dennoch kann es vorkommen, dass der Unternehmer während des laufenden Insolvenzverfahrens wieder zu einer ausreichenden Liquidität kommt. Auslöser können beispielsweise sein:
- Verkauf von Wirtschaftsgütern zu einem höheren als dem bislang angenommenen Wert (Preis)
- Erfolgreiche Sanierung und Restrukturierung des Geschäftsbetriebes
- Erhebliche Einsparung von Kosten und dadurch eintretende Freisetzung liquider Mittel
Die Voraussetzung für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, fällt in diesen Fällen nachträglich weg. Auf Antrag des Schuldners hat das Insolvenzgericht in der Folge die Einstellung des Insolvenzverfahrens nach § 212 Satz 1 InsO zu verfügen. Dies gilt allerdings nur, wenn der Wegfall und insbesondere das zukünftige Ausbleiben der Eröffnungsgründe glaubhaft gemacht wird (Satz 2).
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