Nichtigkeitsklage vor dem EuGH im Steuerrecht
Die Nichtigkeitsklage (Artikel 267 AEUV) ist eine Rechtsschutzmöglichkeit, mit der Steuerpflichtige die Unionsrechtswidrigkeit des Unionsrechts geltend machen können. Wir erklären, an welche Voraussetzungen die Nichtigkeitsklage geknüpft ist und welche Fälle bei einer Nichtigkeitsklage in Betracht kommen.
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Inhaltsverzeichnis
1. Grundsatz: Kein Individualrechtsschutz
Bei der Frage nach Individualrechtsschutz im europäischen Steuerrecht ist nach dem Gegenstand zu differenzieren, gegen den sich der Steuerpflichtige richtet. Zum einen kann er sich gegen nationales Recht richten, dass unionsrechtswidrig sein soll. Zum anderen kann er sich gegen Unionsrecht richten, das seinerseits unionsrechtswidrig ist.
Ein denkbarer Fall der Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts kommt beispielsweise bei der Wegzugsteuer in Betracht. Die Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Steuerrechts kann aber nur durch das Vorabentscheidungsverfahren und das Vertragsverletzungsverfahren gerügt werden. Individualrechtsschutz des Bürgers gegen unionsrechtswidrige Steuergesetze ist hingegen nicht vorgesehen. Daher hat der Steuerpflichtige, der durch eine unionsrechtswidrige nationale Steuernorm beschwert ist, keine Möglichkeit, die Angelegenheit selbst vor den EuGH zu bringen.
Das Vertragsverletzungsverfahren kann nur durch die Kommission oder einen anderen Mitgliedstaat in deren Ermessen eingeleitet werden. Auch bei dem Vorabentscheidungsverfahren obliegt es dem nationalen Gericht, ob es an den EuGH vorlegt oder nicht. Erfolgt allerdings eine Vorlage, so ist der Steuerpflichtige auch im EuGH-Verfahren Beteiligter und hat die Möglichkeit eine Stellungnahme abzugeben.
In der Praxis kann es dem Steuerpflichtigen helfen, bei der Kommission oder vor dem nationalen Gericht die Vorlage an den EuGH anzuregen. Dies gilt insbesondere, wenn die Kommission oder das nationale Gericht erst durch diesen Hinweis umfassend über die unionsrechtlichen Probleme der Thematik informiert werden. Die Kommission hat sich politisch verpflichtet schriftlichen Individualbeschwerden nachzugehen und dabei bestimmte Formalia einzuhalten. Zudem führt die Kommission von Zeit zu Zeit öffentliche Anhörungen zu bestimmten Themenkomplexen durch. Auch dabei können Steuerpflichtige mögliche Unionsrechtsverstöße benennen.
2. Individualrechtsschutz gegen unionsrechtswidriges Unionsrecht möglich mit Nichtigkeitsklage
2.1. Mögliche Unionsrechtswidrigkeit des Unionsrechts
In der Normenhierarchie des Unionsrechts besitzt das Primärrecht den obersten Rang. Das Sekundärrecht ist daher primärrechtskonform auszulegen. Sekundärrecht das gegen Primärrecht verstößt ist daher rechtswidrig. Insofern kommt mithin Unionsrechtswidrigkeit des Unionsrechts in Betracht.
2.2. Rechtsschutz durch Nichtigkeitsklage
Dieser Vorrang des Primärrechts gegenüber dem Sekundärrecht ist gerichtlich durchsetzbar. Verfahren sind zum einen das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 267 AEUV. Dabei ergeben sich aber aufgrund des Prüfungsgegenstandes einige Abweichungen gegenüber dem Fall, dass Prüfungsgegenstand das nationale Recht ist. Zum anderen steht die Nichtigkeitsklage gemäß Artikel 263 AEUV zur Verfügung.
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3. Nichtigkeitsklage
3.1. Klageberechtigung bei Nichtigkeitsklage
Einlegungsberechtigt sind die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Rechnungshof, die Europäische Zentralbank und der Ausschuss der Regionen. Ferner sind auch auch natürliche und juristische Personen einlegungsberechtigt. Deswegen sichert die Nichtigkeitsklage individual Rechtsschutz.
Die Klagefrist beträgt zwei Monate (Artikel 263 Absatz 6 AEUV).
3.2. Klagegegenstand der Nichtigkeitsklage
Die Nichtigkeitsklage kommt gemäß Artikel 263 AEUV in Betracht, um die Rechtmäßigkeit von Sekundärrecht am Primärrecht überprüfen zu lassen. In diesem Verfahren ist im Gegensatz zum Vorabentscheidungsverfahren unmittelbarer Individualrechtsschutz des Steuerpflichtigen möglich.
Der Klagegegenstand der Nichtigkeitsklage ist in Artikel 261 Absatz 1 Satz 1 AEUV geregelt. Die Nichtigkeitsklage ist demnach ein Instrument zur Überwachung der Rechtmäßigkeit von Gesetzgebungsakten sowie von bestimmten Handlungen von Unionsorganen. Handlungen der Unionsorgane sind dabei Handlungen des Rates der Kommission, des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rats und der Europäischen Zentralbank (außer Empfehlungen und Stellungnahmen). Gerichtet ist die Nichtigkeitsklage auf die Feststellung der Nichtigkeit der angefochtenen Handlung. Sie entfaltet zudem Rechtswirkung gegenüber Dritten.
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3.3. Klagebefugnis zur Nichtigkeitsklage
3.3.1. Differenzierung nach dem Kläger
Die Klagebefugnis richtet sich nach dem Kläger. In Abhängigkeit dazu, wer klagt, sind unterschiedliche Anforderungen an die Klagebefugnis zu stellen. Grund für die unterschiedlichen Zulassungsvoraussetzungen sind die abgestuften institutionellen Positionen. Die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission können aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung unionswidrige Organhandlungen einer abstrakten Normenkontrolle unterziehen.
Natürliche und juristische Personen sind gemäß Artikel 263 Absatz 4 AEUV nichtprivilegierte Kläger. Diese dürfen nur gegen an sie gerichtete oder sie unmittelbar individuell betreffende Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben.
Demgegenüber sind der Rechnungshof, die Europäische Zentralbank und der Ausschuss der Regionen teilprivilegierte Kläger. Sie dürfen gemäß Artikel 263 AEUV Klagen erheben, die auf die Wahrung ihrer (unionsrechtlichen) Rechte abzielen.
Die Mitgliedstaaten, das europäische Parlament, der Rat und die Kommission sind privilegierte Kläger. Sie dürfen gemäß Artikel 263 Absatz 3 AEUV auch ohne individuelle Betroffenheit Klage erheben.
3.3.2. Klagebefugnis natürlicher und juristischer Personen
Im Rahmen der Klagebefugnis bei der Nichtigkeitsklage natürlicher und juristischer Personen ist zu prüfen, ob die Handlung an den Kläger gerichtet ist. Das ist dann der Fall, wenn er ihr Adressat ist, Artikel 263 Absatz 4 Variante 1 AEUV.
Ist der Kläger nicht Adressat der streitgegenständlichen Handlung, so kann er dennoch klagebefugt sein. Dann kommt es gemäß Artikel 263 Absatz 4 Variante 2 AEUV darauf an, ob die Handlung den Kläger unmittelbar und individuell betrifft. Betroffenheit in diesem Sinne liegt vor, wenn rechtlich relevante Interessen des Klägers betroffen sind. Unmittelbare Betroffenheit liegt vor, wenn die angegriffene Maßnahme selbst in die geschützten Interessen des Klägers eingreift, ohne dass es dazu noch einer weiteren Durchführungsmaßnahme bedarf. Wirken Handlungen direkt gegen den Einzelnen, so ist dieser auch unproblematisch unmittelbar betroffen.
Problematisch ist die Betroffenheit des Klägers hingegen, wenn Rechtsakte der Union an Mitgliedstaaten gerichtet sind. Dann ist die unmittelbare Betroffenheit besonders darzulegen. Hier haben sich in der Rechtsprechung unterschiedliche Kriterien herausgebildet. Dem Mitgliedstaat darf bei der Umsetzung nahezu kein Ermessensspielraum mehr verbleiben. Ferner muss sich der Mitgliedstaat von Anfang an auf eine bestimmte Vorgehensweise festgelegt haben. Doch auch, wenn diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, muss der Kläger noch individuell nach dem oben genannten Grundsatz betroffen sein. Dies ist wiederum problematisch, da der Kläger nicht Adressat der Handlung ist. In solchen Fällen ist nach dem EuGH unmittelbare Betroffenheit vorliegend, wenn die Vorschrift den Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten einer Entscheidung. Die Rechtsprechung dazu ist aber seit längerer Zeit im Fluss.
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3.4. Rechtsschutzinteresse
Darüber hinaus müssen natürliche oder juristische Personen Rechtsschutzinteresse haben, wenn sie klagen wollen. Dieses liegt vor, wenn ein rechtlich schützenswertes Interesse an der Klageerhebung besteht. Ist der Kläger klagebefugt, so hat er in der Regel auch Rechtsschutzinteresse. Fraglich kann dieses nur sein, wenn die anzugreifende Maßnahme zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits mit Rückwirkung aufgehoben ist.
3.5. Zuständigkeit für Nichtigkeitsklagen
Bei Klagen natürlicher oder juristischer Personen ist gemäß Artikel 256 Absatz 1 Satz 1 AEUV in erster Instanz das Europäische Gericht zuständig. Gemäß Artikel 256 Absatz 1 Satz 3 AEUV kann gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel beim EuGH eingelegt werden.
Ein Großteil der Klagen der privilegierten oder teilprivilegierten Kläger wird hingegen durch Artikel 51 der Satzung des Gerichtshofs dem EuGH zugewiesen. Eine Ausnahme hierzu bilden unter anderem Klagen der Mitgliedstaaten gegen Handlungen der Kommission. Hier bleibt der EuGH weiterhin erstinstanzlich zuständig.
4. Begründetheit der Nichtigkeitsklage
Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn einer der in Artikel 263 AEUV genannten Nichtigkeitsgründe vorliegt. Die dort geführten Nichtigkeitsgründe sind Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm und Ermessensnichtgebrauch. Das Kriterium der Verletzung der Verträge schließt die anderen genannten Kriterien mit ein und ist ein Auffangtatbestand. Darunter fallen nicht nur Verletzungen des geschrieben Primärrechts, sondern des gesamten Unionsrechts.
Ist die Nichtigkeitsklage begründet, so wird die angefochtene Handlung gemäß Artikel 264 AEUV für nichtig erklärt. Die Nichtigkeitsklage beseitigt die bis zu seiner Aufhebung zukommende Geltung des rechtswidrigen Akts.
5. Beispiele für Nichtigkeitsklagen
Als Beispiel für Nichtigkeitsklagen mit steuerlichem Bezug kommt das Verfahren zur Unvereinbarkeit von § 8c Absatz 1a KStG mit europäischen Beihilferecht in Betracht. Die Kommission hatte die Unvereinbarkeit dieser Ausnahmeregelung mit europäischen Beihilferecht festgestellt. Daraufhin erhoben einige deutsche Steuerpflichtige, die von § 8c Absatz 1a KStG profitiert haben, Nichtigkeitsklage. Nachdem das EuG in der ersten Instanz die Entscheidung der Kommission aufrechterhalten hatte und unzulässige Beihilfe annahm, hat der EuGH nun festgestellt, dass es sich bei der deutschen Vorschrift um keine unzulässige Beihilfe handelt.
Ein weiteres aktuelles Beispiel für eine steuerliche Nichtigkeitsklage durch einen privilegierten Kläger stellt die am 09.11.2016 eingereichte Klage Irlands gegen die Kommissionsentscheidung von 30.08.2016 in der Rechtssache „Apple“ dar. In dieser Entscheidung hatte die Kommission die steuerliche Behandlung des Apple-Konzerns durch Irland als unzulässige Beihilfe im Sinne der Artikel 107 ff. AEUV eingestuft. Daher hatte die Kommission Irland dazu verpflichtet, gegen Apple eine entsprechende Steuernachforderung in Höhe von bis zu 13 Mrd. Euro geltend zu machen.
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