Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Welche Voraussetzungen müssen vorliegen?

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO

Für alle Steuerpflichtigen einheitliche Fristen, etwa für die Einlegung des Einspruchs, sind im Verwaltungsverfahren bereits aufgrund des verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbots unabdingbar. Allerdings kommt es in der Praxis immer wieder vor, dass es für einen Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen schlicht unmöglich ist, die Einspruchsfrist nach § 355 AO einzuhalten. In diesen Fällen kann das Finanzamt nach Maßgabe des § 110 AO die sogenannte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren. Sie führt dazu, dass die versäumte Frist als eingehalten gilt.

Inhaltsverzeichnis

1. Rechtsgrundlage: Was ist die Wiedereinsetzung nach § 110 AO?

Bei der Gewährung von Wiedereinsetzung handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Finanzamtes (§ 110 Absatz 4 und § 5 AO). Tatbestandlich kann die Finanzbehörde Wiedereinsetzung gewähren, wenn ein Steuerpflichtiger

  • ohne Verschulden daran gehindert war,
  • eine gesetzliche Frist einzuhalten, und
  • einen entsprechenden Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellt (§ 110 Absatz 1 Satz 1 AO).

Gibt das Finanzamt dem Antrag auf Wiedereinsetzung statt, wird der Steuerpflichtige in den „vorigen Stand“ versetzt. Diese mitunter etwas umständlich zu lesende Formulierung meint schlichtweg, dass die – eigentlich versäumte – Frist als eingehalten gilt. Die Vorschrift ist dabei inhaltsgleich mit § 56 FGO, der die Wiedereinsetzung bei Versäumung der Klagefrist regelt. Schauen wir uns die drei wesentlichen Tatbestandsmerkmale (beider Normen) einmal etwas genauer an!

1.1. Verhinderung ohne Verschulden

Zwingende Tatbestandsvoraussetzung für die Gewährung von Wiedereinsetzung ist die Versäumnis einer gesetzlichen Frist ohne eigenes Verschulden. Der Verschuldensbegriff ist dabei nicht mit dem des § 173 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 AO („grobes Verschulden“) gleichzusetzen, da sich letzterer insbesondere auf grob fahrlässige und vorsätzliche Handlungen bezieht. „Verschulden“ im Sinne des § 110 Absatz 1 Satz 1 AO meint hingen auch einfache respektive leichte Fahrlässigkeit (so etwa in Zusammenhang mit der Frist des § 32d Absatz 2 Nummer 3 Satz 4 EStG vom BFH mit Urteil vom 29.08.2017, VIII R 33/15 entschieden).

Das Finanzamt hat die Verschuldensfrage dabei im Einzelfall zu beurteilen und hierbei insbesondere die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist unter anderem in folgenden Fällen kein Verschulden der steuerpflichtigen Person anzunehmen:

  • Urlaubsbedingte Abwesenheit von maximal sechs Wochen; hier kann vom Steuerpflichtigen (noch) nicht erwartet werden, sich um eine Vertretung zu kümmern. Insbesondere Geschäftsreisende, die regelmäßig für längere Zeit abwesend sind und hiervon Kenntnis haben (planbare Abwesenheit), müssen hingegen geeignete Vorkehrungen treffen
  • Krankheit, die plötzlich und unvorbereitet auftritt, sodass der Steuerpflichtige keine Möglichkeit (mehr) hat, einen Vertreter zu bestellen
  • Verzögerungen im Postlauf, die so außergewöhnlich sind, dass der Steuerpflichtige nicht mit ihnen zu rechnen braucht. Dieser Wiedereinsetzungsgrund scheidet allerdings aus, wenn der Einspruch das Finanzamt auch unter „normalen“ Umständen nicht fristgerecht hätte erreichen können

Im Umkehrschluss ging der BFH unter anderem in folgenden Fällen von einem (vermeidbaren) Verschulden des Steuerpflichtigen aus:

  • Allgemeine und damit voraussehbare Arbeitsüberlastung, die die berufliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen mit sich bringt
  • Unzutreffende Fristberechnung durch den Steuerpflichtigen
  • Totalausfall der EDV; das Verschulden besteht in diesen Fällen darin, dass keine ausreichenden Vorkehrungen („Plan B“) für technisches Versagen getroffen wurden

1.2. Einhaltung einer gesetzlichen Frist

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nur möglich, wenn und soweit eine gesetzliche Frist versäumt wurde. Gesetzliche sind von behördlichen Fristen zu unterscheiden. Beispiele:

  • Gesetzliche Frist: Einspruchsfrist (§ 355 AO), Jahresfrist bei fehlender Rechtsbehelfsbelehrung (§ 356 Absatz 2 AO), Antragsfrist für schlichte Änderungen (§ 172 Absatz 1 Nummer 2 Buchstabe a AO)
  • Behördliche Frist: Auskunftsfristen (§ 93 AO), verlängerte Frist für die Einreichung der Steuererklärung (§ 109 Absatz 1 Satz 1 AO), Stundungsfrist (§ 222 Satz 1 AO)

Von § 110 AO werden außerdem nur solche Fristen umfasst, die der Steuerpflichtige dem Finanzamt gegenüber zu wahren hat (Stichwort „…einzuhalten…“ in § 110 Absatz 1 Satz 1 AO). Daher ist die Festsetzungsfrist (§ 169 Absatz 2 AO) keine wiedereinsetzungsfähige Frist, denn sie bindet lediglich die Finanzverwaltung (AEAO zu § 110, Randziffer 1 Satz 4). Hauptanwendungsfall des § 110 Absatz 1 Satz 1 AO ist in der Praxis das Einspruchsverfahren.

Haben Sie Fragen zur
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand?

Unsere Kanzlei hat sich hierauf besonders spezialisiert. Vereinbaren Sie jetzt Ihren ganzheitlichen Beratungstermin mit unseren Steuerberatern und Rechtsanwälten:

1.3. Antrag auf Wiedereinsetzung

Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfordert einen entsprechenden Antrag des Steuerpflichtigen. An diesen stellt der Gesetzgeber keine bestimmten Formerfordernisse, sodass auch eine kurze E-Mail an das zuständige Finanzamt ausreicht. Für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung ist das Finanzamt zuständig, das auch über die versäumte Handlung (etwa fristgerechte Einlegung des Einspruchs) zu befinden hat (§ 110 Absatz 4 AO).

Fehlt einem Verwaltungsakt die nach § 119 AO vorgeschriebene Begründung, gilt die Einspruchsfrist als unverschuldet versäumt (§ 126 Absatz 3 AO). Die Einspruchsfrist beginnt über den „Umweg“ des § 110 AO erst, wenn das Finanzamt die Begründung nachgeholt hat (maßgebliches Ereignis im Sinne des § 110 Absatz 2 AO).

2. Monats- und Jahresfrist bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Der nach § 110 Absatz 1 Satz 1 AO notwendige Antrag auf Wiedereinsetzung ist nach § 110 Absatz 2 Satz 1 AO innerhalb eines Monats, nachdem das Hindernis weggefallen ist, zu stellen. „Hindernis“ meint dabei den Lebenssachverhalt, aufgrund dessen der Steuerpflichtige an der Einhaltung der Frist gehindert war. Beispiele:

  • Der Steuerpflichtige kehrt am 01.05.2023 aus seinem Urlaub zurück. Das Hindernis ist am 01.05. weggefallen, hier beginnt die Wiedereinsetzungsfrist
  • Die Genesung des Steuerpflichtigen ist am 10.10.2023 abgeschlossen. Hier beginnt die Frist für die Wiedereinsetzung im Sinne des § 110 Absatz 2 AO

Im Verfahren vor den Finanzgerichten beträgt die Frist, innerhalb derer die Wiedereinsetzung geltend zu machen ist, lediglich zwei Wochen (§ 56 Absatz 2 FGO). Die Monats- respektive Zweiwochenfrist ist ebenfalls eine „gesetzliche Frist“ im Sinne des § 110 Absatz 1 Satz 1 AO. Damit kommt auch für sie die Wiedereinsetzung in Betracht, sofern und soweit die sonstigen Voraussetzungen der Norm erfüllt sind.

Holt der Steuerpflichtige die versäumte Handlung (regelmäßig: Einlegung des Einspruchs) innerhalb der Monatsfrist nach, ist ein gesonderter Antrag auf Wiedereinsetzung entbehrlich (§ 110 Absatz 2 Satz 3 und 4 AO). Die Nachholung der Handlung gilt dann als entsprechender Antrag.

Nach § 110 Absatz 3 AO gilt zusätzlich eine Jahresfrist. Ein Antrag auf Wiedereinsetzung ist unwirksam, wenn nach dem Ende der versäumten Frist mindestens ein Jahr vergangen ist. Einzige Ausnahme: Der Steuerpflichtige war durch höhere Gewalt an der Nachholung der versäumten Handlung gehindert.

Steuerberater für Verfahrensrecht

Unsere Kanzlei hat sich besonders auf die steuerrechtliche Gestaltungsberatung im Unternehmensteuer- und dem damit zusammenhängenden Verfahrensrecht spezialisiert. Im persönlichen Gespräch schätzen Mandanten unser Know-how beispielsweise in folgenden Bereichen:

Allgemeines Abgaben- und Verfahrensrecht

  1. Ausarbeitung von Vermeidungsstrategien für den Gestaltungsmissbrauch im Sinne des § 42 AO
  2. Beratung bei komplexen Unternehmensstrukturen (Holdinggesellschaften, Organschaften)
  3. Entwicklung von Verteidigungsstrategien gegenüber der Finanzverwaltung bei Einspruchsverfahren, Betriebsprüfungen, FG-Klageverfahren und BFH-Revisionsverfahren
  4. Langfristige Betreuung unserer Mandanten (Finanzbuchhaltung, Lohnbuchhaltung, Jahresabschlüsse, Steuererklärungen)

Hierzu stehen Ihnen unsere Steuerberater und Rechtsanwälte an den Standorten Köln und Bonn gerne für eine persönliche Beratung zur Verfügung. Zudem beraten wir deutschlandweit per Telefon und Videokonferenz:

Standort
Köln

image Telefon: 0221 999 832-10 E-Mail: office@juhn.com Mo. bis Sa. 8:00 - 20:00 Uhr

Standort
Düsseldorf

image Telefon: 0221 999 832-10 E-Mail: office@juhn.com Mo. bis Sa. 8:00 - 20:00 Uhr

Standort
Frankfurt

image Telefon: 0221 999 832-10 E-Mail: office@juhn.com Mo. bis Sa. 8:00 - 20:00 Uhr

Standort
Bonn

image Telefon: 0221 999 832-10 E-Mail: office@juhn.com Mo. bis Sa. 8:00 - 20:00 Uhr

Standort
Dubai

image Telefon: 0221 999 832-10 E-Mail: office@juhn.com Mo. bis Sa. 8:00 - 20:00 Uhr

Telefon-/ Videokonferenz

image Telefon: 0221 999 832-10 E-Mail: office@juhn.com Mo. bis Sa. 8:00 - 20:00 Uhr